Seit Wochen nun legen die fast alltäglich gewordenen Proteste in Iran das Leben lahm. Der Stillstand erinnert an Zeiten vor 43 Jahren, als monatelange Straßenproteste schließlich den Sturz des Schahs bewirkten. Intellektuelle hatten bereits vorher gewarnt: »Die Gesellschaft ist in eine Phase des Zorns eingetreten.«

Dass die Regierung diese Warnungen ignoriert hat, zeigt, dass sie sich des Ernstes der Lage nicht bewusst ist und nicht ermisst, wie tief dieser Zorn sitzt. Zudem scheinen die Machthabenden nicht zu wissen, was sich unter der Oberfläche der Gesellschaft abspielt.

Der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini im Gewahrsam der iranischen Moralpolizei, ausgelöst durch ihre nach offizieller Lesart unangemessene Verschleierung, hat die Lunte an das Pulverfass der gesellschaftlichen Forderungen gelegt, denen die Regierung sich seit mehr als vier Dekaden verschließt.

Dass Irans Regierende darauf insistieren, die von weiten Teilen der Bevölkerung seit Jahrzehnten abgelehnte Politik weiterzuführen, ist begründet in der faulen Saat, die bereits in den Anfangstagen des islamischen Regimes gelegt wurde. Der mangelhafte Keim hat sich zu einer unerträglich schmerzhaften Infektion ausgewachsen. Der Fehler besteht in der Verquickung der gewöhnlichen, rein irdischen Angelegenheit des Regierens mit der himmlischen, göttlichen, heiligen Sache der Religion und des Glaubens.

Die herrschende politische Ordnung wird als »heilige Ordnung« bezeichnet, womit Protest, Missbilligung und Kritik an der Art der Regierungsführung als Auflehnung gegen die Grundprinzipien der Religion und gegen göttliche Gebote ausgelegt wird. In den Augen der Herrschenden ist jede Form des Protests ungesetzlich, weshalb die Allgemeinheit gezwungen wird, sich allen offiziellen Ansichten anzuschließen. Auf diese Weise wurde bisher jeder potenzielle Weg hin zur Verständigung zwischen der Gesellschaft und ihrer Regierung versperrt und, schlimmer noch, Regierungsgegner wurden durch Zensur und Inhaftierungen mundtot gemacht.

Aus der Verquickung von Staat und Religion ergab sich zudem, dass die Religion sehr rasch ideologische Züge annahm, was wiederum eine allmählich wachsende Distanz zwischen der Regierung und jener Masse der Gläubigen zur Folge hatte, die der Revolution einst maßgeblich zum Erfolg verholfen hatte. Deren religiöse Überzeugungen wurden mit der Zeit schwächer.

Die iranische Gesellschaft ist im Grunde eine geduldige Gesellschaft, sie richtet ihren Blick auf Fenster der Zuversicht. Entsprechend war bei Wahlkämpfen, in denen man Reformkandidaten realistische Chancen einräumte, die Wahlbeteiligung immer hoch.

Bei der letzten Wahl, die Ebrahim Raisi an die Macht verholfen hat, kandidierte jedoch kein einziger Reformkandidat, weshalb die Wahlbeteiligung so niedrig war wie nie. Diese politische Abstinenz ist ein Hinweis auf die große Enttäuschung der Bevölkerung. Die Regierenden ignorieren dieses deutliche Warnzeichen, wie üblich.

 

Spiegel 2022 10 31 Bluttriefende Wunde

 

Es hat eine lange Tradition, klare Signale für das große Unbehagen der Menschen angesichts unverändert fortbestehender Missstände zu ignorieren. Nach der Grünen Revolte im Jahr 2009 erlebte die iranische Gesellschaft in den Jahren 2017 und 2019 zwei weitere Aufstände, derer die Machthabenden allein durch deren brutale Niederschlagung Herr wurden. Angaben ausländischer Menschenrechtsorganisationen zufolge forderte die letzte Protestbewegung 1500 Todesopfer. Die kontinuierliche Politik der Repression hat die politische Ordnung im Land über Dekaden hin gefestigt. Dass sich auf diese Form von Politik aber nicht langfristig bauen lässt, scheinen Irans Machthaber nicht zu verstehen.


Nichts ist mehr wie es war

Sie glauben, sie könnten, wie einst in den ersten Tagen nach der Revolution, ihre Politik unverändert durchsetzen und die Reaktionen der Bevölkerung außer Acht lassen. Statistiken zeigen jedoch auch, welch folgenschwere Entwicklung sich in den vergangen 40 Jahren in Iran ereignet hat. Von 35 Millionen zu Beginn der Revolution im Jahr 1979 ist die Bevölkerung mittlerweile auf 85 Millionen Menschen angewachsen, von denen 84 Prozent nach der Revolution geboren wurden. Die Lebensqualität nahm in den vergangenen Dekaden stetig ab, während Armut und Marginalisierung zunahmen, das öffentliche Selbstvertrauen sank, die Zahl anhängiger Gerichtsverfahren stieg. Ebenso steigen die Selbstmord- und die Scheidungsraten, und immer mehr Menschen wandern aus. Mit ihnen verlassen große Mengen Geld das Land.

Andere Zahlen weisen auf optimistisch stimmende Entwicklungen hin: zunehmende Urbanisierung, steigende Alphabetisierung und Hochschulausbildung, insbesondere bei Frauen. Zählt man auch die wachsende Abhärtung der Bevölkerung gegen offizielle Propaganda zu diesen Entwicklungen, so wird unschwer erkennbar, dass heute nichts mehr so ist wie es war. Die junge, aufstrebende Generation Z will leben und Spaß haben. Die Machthaber hingegen erachten ein Leben als Selbstzweck für vollkommen sinn- und bedeutungslos.

In der aktuellen Bewegung, welche die Forderungen der iranischen Gegenwartsgesellschaft zum Ausdruck bringt, spielen die Frauen eine zentrale Rolle. Sie haben den Protesten einen neuen Charakter verliehen. Im Persischen bezeichnet das Wort »Urat« die Frau, die Gattin und zugleich die Genitalien sowie alles der Verhüllung bedürfende Hässliche. Umso beachtenswerter ist die Tatsache, dass die Vorkämpferinnen der Bewegung die Männer gleich zu Beginn mit ins Boot geholt haben, und dass »Frau, Leben, Freiheit!« eine für alle Gesellschaftsschichten akzeptable Devise geworden ist.

Wir erleben hier einen Paradigmenwechsel im Bewusstsein der Frauen, hin zu einem bisher undenkbaren Selbstverständnis. Erst recht, wenn die Frauen anfangen, sich vor Augen zu führen, dass sie weltweit zwei Drittel aller Arbeit verrichten, und in Iran seit mehr als drei Dekaden 65 Prozent derer ausmachen, die eine Hochschule absolvieren. In einer von konservativen Mullahs regierten Gesellschaft erfahren Frauen jedoch mehrfache Ungerechtigkeit.

Iranischen Polizeiberichten zufolge wurden 2009 innerhalb von acht Monaten 1,3 Millionen Frauen wegen regelwidriger Verschleierung in der Öffentlichkeit verwarnt. Aus demselben Grund wurden im Jahr darauf allein binnen drei Tagen mehr als 150.000 Frauen verhaftet. Dieses Vorgehen verfehlte allerdings seine gewünschte abschreckende Wirkung: Die Frauen haben nicht klein beigegeben, sie haben ihren zivilen Ungehorsam fortgesetzt und waren bereit, ein Opfer zu bringen im Kampf gegen den Schleierzwang, bis der kleine Funke schließlich zu einer großen Flamme wurde und sehr viele Menschen auf die Straße getrieben hat.

Die Zensur sowie fehlende politische Parteien und unabhängige Gewerkschaften machen die Straße seit Jahren zum einzigen Ort der öffentlichen Austragung politischer Meinungsverschiedenheiten in Iran. Der iranische Staat hat keine freien Medien und gestattet weder Versammlungsfreiheit, noch bietet er anderen Raum für Reflexionen über bestehende Anliegen. Wenn die Menschen die Straße nicht als Tribüne für ihren Protest wählen, welche Alternative bleibt ihnen dann?

Das iranische Volk ist verwundet. Über die Jahre kam eine Verletzung zur nächsten, ohne dass vorherige Wunden Zeit hatten, zu heilen. Die Menschen fragen sich: »Wie soll man Jahrzehnte vergeudeter Jugendjahre von inkompetenten Regenten zurückfordern? Wer entschädigt einen für ein Leben, das Freude bringen sollte, aber nur Kummer und Sorgen bereithält?«

Nach vier Jahrzehnten im Krisenzustand sind die Menschen müde. Sie möchten sich nicht länger mit der wirtschaftlichen Not und Engpässen arrangieren müssen, die ihnen die Luft abschnüren. Sie möchten wieder frei atmen und ein normales Leben in Würde führen. Die Protestierenden sind auch von dem Gefühl getrieben, dass die Machthaber ihnen die Erfüllung eines menschlichen Lebens verwehren; Verantwortungsträger, die keinerlei Verständnis für die Wünsche ihrer Bürgerinnen und Bürger haben.

 

Die aktuelle Bewegung ist breit und umfassend. Die Menschen treten als Individuen und zugleich als kollektives Ganzes auf, wodurch Grenzen und Unterschiede zwischen Klassen, Geschlechtern, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit zugunsten eines übergeordneten Gemeinwohls verdrängt werden und wir das Gefühl haben, uns in einer revolutionären Episode zu befinden.

Die Herrschenden reden zwar von Gesprächen, bringen ihre potenziellen Gesprächspartner unterdessen aber ständig weiter gegen sich auf. Eine ihrer Provokationen besteht darin, verhaftete Gymnasiastinnen in »Reform- und Erziehungsanstalten« genannte Jugendstrafanstalten zu stecken. Zudem bezeichnen sie Menschen, die im Laufe der Proteste ihr Leben gelassen und nationale Berühmtheit erlangt haben, als »Selbstmörder« – und schüren damit umso mehr den Hass auf die Herrschenden.


Die Zukunft der Bewegung

Nach Angaben iranischer Menschenrechtsorganisationen haben die Proteste bereits mehr als zweihundert Menschen das Leben gekostet, und sie gehen unvermindert weiter.

Wird die aktuelle Protestbewegung richtungsweisende Ergebnisse erzielen oder wird man sie – wie auch die großen Aufstände von 2009, 2017 und 2019 – ersticken, damit wieder Ruhe einkehrt im Land?

Gleich zu Beginn der Proteste haben Irans Machthaber verschwörerische feindliche Mächte für die Unruhen verantwortlich gemacht. Zusätzlich schalten sie das Internet ab und schlagen Proteste nieder, auf den Straßen, an Universitäten, an Schulen.

Der Unterdrückungsapparat läuft nach wie vor auf Hochtouren, Aufstandsbekämpfer, die Basidsch-Milizen, die Polizei, Geheimdienstpersonal in Zivil, alle sind sie auf der Straße, mit vereinten Kräften. Der nächste Schritt wäre, dass das Militär mit Panzern und anderer schwerer Ausrüstung anrückt, einen Blutstrom verursacht und anschließend für Friedhofsruhe sorgt. Für die vorübergehende Ruhe vor dem Sturm eines Bürgerkriegs vielleicht?

Selbst wenn das bestehende Regime sich an der Macht hält, wird alles anders sein als bisher, systemisch instabil, unsicher. Diesen Tatbestand sollte der Westen im Blick behalten.

Aus dem Persischen übersetzt von Jutta Himmelreich

Read on Spiegel

Download PDF

Download Text