nzz 2022 11 02

 

Während der Protestbewegungen in Iran ist das Evin-Gefängnis wieder in die Schlagzeilen geraten. Der Name steht menetekelhaft für gepeinigte Studenten, Journalisten, Künstler und politische Aktivisten. Die Festung hoch über der Hauptstadt ist ein Symbol der Schreckensherrschaft.

Manche Leute vertreten die Überzeugung, dass die Wahrheit jeder politischen Ordnung sich in deren Gefängnissen offenbare. Oder anders ausgedrückt, sagt die Art, wie Regierungen mit ihrer politischen Gegnerschaft umgehen, viel über deren Wesen aus. Folgt man dieser Logik, so muss man Irans letzten beiden Regimen, dem des Schahs und dem der Mullahs, ein verheerendes Zeugnis ausstellen.

Durch den Brand während der Protestbewegung, die das Land seit Wochen in Atem hält, ist das verrufene EwinGefängnis von Teheran erneut in die Schlagzeilen geraten. Es war der gewaltsame Tod einer 22 Jahre alten Frau in Gewahrsam der Teheraner Sittenpolizei (von der sie verschleppt worden war, weil sie ihr Kopftuch angeblich nicht ordnungsgemäss getragen haben soll), der die Menschen auf die Strasse trieb. Unter dem Slogan «Frau, Leben, Freiheit!» kamen rasch Forderungen auf, die sich im Laufe von vier Dekaden aufgestaut haben: Abschaffung der Tyrannei, Beseitigung der Korruption und Überwindung der Stagnation.

 

 

Ein Signal der Abschreckung

Das Ewin-Gefängnis umfasst ein vierzig Hektaren grosses Areal in Teherans Norden. 1971 in Betrieb genommen, stellt es die landesweit grösste Haftanstalt dar für politische Gefangene und Leute, denen die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorgeworfen wird. Bis zu 15 000 Menschen sollen in dem zunächst für 300 Gefangene gedachten Komplex gleichzeitig inhaftiert gewesen sein. Im Zuge der islamischen Revolution von 1979 wurde die Anstalt von Aktivisten gestürmt, und alle Gefangenen kamen frei. Doch der Ort war für die neue geistliche Obrigkeit zu praktisch, als dass er lange ungenutzt geblieben wäre.

In der jüngeren Geschichte des Landes waren die politischen Gefängnisse Ghassr und Ghasel Ghaleh gleichermassen berühmt und berüchtigt wie Ewin. Ghassr ist mittlerweile ein Museum, und Ghasel Ghaleh wurde zu einem Gemüsemarkt umfunktioniert. Allein Ewin, dessen Name menetekelhaft für gepeinigte Studenten, Journalisten, Schriftsteller, Künstler und politische Aktivisten aller Couleur steht, wird bis heute als Haftanstalt genutzt.

Wer hier einsitzt, kann nicht sicher sein, dass sein Fall mit der Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe abgeschlossen ist, denn ein Gerichtsverfahren kann, je nach Gutdünken, jederzeit neu aufgerollt werden.

Unter der Herrschaft des Schahs wurden 1975 neun Angehörige einer Guerilla-Gruppe ohne Vorankündigung aus ihren Zellen hinaus auf einen der Hügel des Geländes geführt und dort exekutiert. Das Gefängnispersonal gab an, die Gruppe habe bei ihrer Verlegung in eine andere Haftanstalt zu fliehen versucht und sei dabei erschossen worden. Es war dies ein Signal der Abschreckung für Widerstandsgruppen, die damals in Iran Amerikaner und Angehörige der Geheimpolizei Savak ermordeten. Unter der Herrschaft der Mullahs kam es zu einer ähnlichen Begebenheit. Das «Massaker vom Sommer 1988» wurde gegen Ende des Iran-Irak-Kriegs verübt, als sich ein Waffenstillstand bereits abzeichnete. Milizen der vom Irak aus operierenden iranischen Volksmujahedin überschritten die Grenze und griffen iranische Streitkräfte an. Daraufhin wurden mehrere tausend in Ewin und anderen Haftanstalten einsitzende politische Häftlinge hingerichtet.

Jahrelang schwiegen die Medien dazu, kein Politiker nahm Stellung. Doch irgendwann liess sich nicht länger vertuschen, was geschehen war. Nun hiess es einfach, die Toten seien Todfeinde der Islamischen Republik gewesen. Ibrahim Raisi, Irans derzeitiger Präsident, war damals einer der drei für die Hinrichtung Verantwortlichen. Das Trio war berüchtigt als die Todesschwadron.

Zahlreiche ehemalige Häftlinge haben nach ihrer Ausreise ins Exil festgehalten, was ihnen in Ewin widerfahrenist. Sie brachten Details über diesen Kerker des Grauens zur Sprache. Die Gefangenen werden von Bettwanzen, Kakerlaken und riesigen Ratten geplagt und bekommen verdorbene Lebensmittel zu essen. Isolationshaft als «psychische Folter» ist an der Tagesordnung, in komplett weiss gestrichenen engen Zellen brennt das Licht Tag und Nacht. Brutale Vernehmungen werden von Todesdrohungen auch gegen Familienangehörige begleitet, Schläge ohne Ende sollen den Willen der Gefangenen brechen. Unablässig hallen Schreie durch die Gänge. Eskommt zu vielen Suizidversuchen.

2021 gelang es Hackern, in das Computersystem des Gefängnisses einzudringen.So gelangten fünfzehnVideos in Umlauf,welche die Misshandlungen anschaulich werden lassen. Es gab einen grossen Aufschrei in der Öffentlichkeit, aus dem jedoch nichts folgte. Als «Warteraum des Todes» hat Amnesty International die iranischen Gefängnisse bezeichnet. Mit denVideos kamen weitere Missstände zutage. Es zeigte sich, dass es neben den Erniedrigten und Gepeinigten auch Insassen gibt, die in Ewin hotelähnliche Aufenthaltsbedingungen geniessen.Zu ihnen zählt der Bruder von Hassan Rohani, dem früheren Präsidenten der Islamischen Republik, der wegen Korruption einsitzt. Er hat oft Hafturlaub. Des Weiteren sorgte der Fund von 130 Kilogramm Rauschgift für Aufsehen, weil er belegte, dass die Rauschgiftmafia es auch hier schafft, ihre Aktivitäten zu entfalten.

 

 

Mit Stromkabel gefoltert

Und jüngst sorgte der rätselhafte Brand für Schlagzeilen, dessen Ursache und Ausmass bis jetzt ungeklärt sind. Mehrere Häftlinge kamen ums Leben. Das Feuer ist vorsätzlich gelegt worden, steht zu vermuten, um Insassen zu gefährden und zu töten. Dazu passt, dass laut Gerüchten wegen Korruption und Unterschlagung einsitzende Gefangene mit Verbindungen zur Regierung rechtzeitig in Sicherheit gebracht wurden.

Ich selber habe das Ewin-Gefängnis in der Zeit nach dem Sturz des Schahs in meinem 2009 erschienenen, von Susanne Baghestani ins Deutsche übertragenen Roman «Teheran, Revolutionsstrasse» eingehend beschrieben. Es seien einige Passagen zitiert:

«Das Gefängnis von Ewin, auf einem Hügel am Abhang des Albors-Gebirges gelegen, beherrschte das unüberschaubare Teheraner Stadtgebiet mit rätselhaftem Schweigen und immer einem Häufchen Menschen vor seinem Tor, mit hohen Backsteinmauern, die mehrere Reihen Stacheldraht zusätzlich erhöhten, und mit kleinen Wachtürmen, die in unregelmässigen Abständen auf Metallstelzen standen. Die Beamten vertrieben mit Gewehrkolben die Wartenden vom Platz vor dem Gefängnistor. Ihre vagen und kurzen Erklärungen befriedigten niemanden, so dass den Bittstellern letztlich nichts übrig blieb, als in Ungewissheit zu warten.

Dieses Gefängnis war eine Stadt für sich. Einst waren seine Abteilungen von Häftlingen, dem Geräusch von Schritten und unablässigem Gemurmel erfüllt gewesen. In den nackten Zellen glich das kleinste Geräusch einem Dröhnen, aus den Lautsprechern quoll eine beharrliche Stimme, die ununterbrochen Gebetsformeln und Klagegesänge rezitierte.

Die Abteilung 325 hatte zwei Bereiche, die nebeneinander an der rechten Seite der Hauptstrasse lagen. Diese Abteilung glich einem Wohnbereich, in ihrem Freistundenhof standen hohe, grüne Bäume. Dann folgte eine steile Anhöhe, und ehe man abbiegen konnte, erblickte man die Abteilung 209, die Frauenabteilung, in deren Kellern die Gefangenen zunächst verhört und anschliessend mit einem Stromkabel oder Gartenschlauch gefoltert wurden. Von dort kam stets ein Brüllen oder Stöhnen. Eine verhältnismässig grosse, nicht überdachte Zelle, die stattdessen mit Gitterstäben versehen war, diente dieser Abteilung als Freistundenhof.

Es gab auch noch weitere Gebäude, die den Umriss dieser mysteriösen Festung vervollständigten, die Quartiere der Gefängnisbehörden, unter anderem der Verwaltung, der Sicherheitsabteilung und sogar der Staatsanwaltschaft. Im dritten Stockwerk von letzterer lag das Büro von Ladschevardi, in dem während der Öffnungszeiten auffälliges Treiben herrschte. Die Verwaltungsgebäude besassen grosse Fenster und luftige Räume. Ausserdem gab es einen Saal für Besucher, in dem eine Glaswand den Gefangenen von seinem Besuch trennte. (. . .)

Das Morgengrauen war sommers vom Gesang der Vögel begleitet und winters vom Erwachen wilder Tiere, die über den trockenen Schnee huschten und die Zweige der nackten Sträucher mit einem gedämpften Rascheln erzittern liessen. Hätte man die brutalen, für die Architektur und Ausstattung eines politischen Gefängnisses charakteristischen Merkmale entfernt, wäre der erste Gedanke, dass dieses Gelände sich ideal für einen hübschen Freizeitpark eignen würde.»

 

 

Zeit der Utopie

Niemand weiss, wie viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten in Irans Gefängnissen einen gewaltsamen Tod fanden. Und doch sind genügend Einzelschicksale bekannt, die belegen, dass sich hier eine ganze Enzyklopädie des Schreckens entfaltete. Sie bleibt, trotz den anschaulichen Berichten derer, die ihren Aufenthalt in Ewin überlebt haben,Aussenstehenden nur schwer vorstellbar.

Nun, wo sich quer durchs Land mit der geballten Wut und Kraft der jahrzehntelang unterdrückten und benachteiligten Frauen die iranische Zivilgesellschaft gegen die Diktatur erhebt, steht die Frage im Raum, ob und wie lange das herrschende Regime mit Gewalt noch durchkommt. Dass die Frauen von ihren Männern im Entschluss unterstützt werden, sich des Kopftuches zu entledigen, ist ein Fanal der Freiheit, auf das die Gesellschaft lange gewartet hat.

Vielleicht mag sich ja eines Tages die Utopie erfüllen, dass auch aus dem Ewin-Gefängnis eine Gedenkstätte für die Verbrechen der Mächtigen, ein Museum für das Scheitern des Patriarchats oder auch nur «ein hübscher Freizeitpark» wird.

 

 

Der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan
lebt in Teheran. Im Frühling ist im Verlag C. H. Beck sein jüngster Roman erschienen: «Eine Liebe in Kairo».

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.

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